COMMON
SENSE 1999
Presse
Rares
Sammlerstück einer Elite der Gleichen
Ungewöhnliches Druckwerk erscheint im zehnten Jahr Demokratische Begegnung
von visueller und Dichtkunst in verrückten Zeiten kann selbst die Berufung auf
den gesunden Menschenverstand gefährlich sein. Darum verbargen der Bernburger
Künstler Ulrich Tarlatt und sein Hallenser Dichterfreund Jörg Kowalski ihre
Provokation wohl auch hinter der Maske der Harmlosigkeit, als sie sich in der
dunkelroten Abenddämmerung des DDR-Sozialismus ihren Traum von einem eigenen
Almanach erfüllten. COMMON SENSE tauften sie in fremdsprachiger Vieldeutigkeit
das Jahrbuch, das im Herbst 1989 Gestalt gewann. Und weil die Legenden in jenen
Jahren mitten im Alltag reiften, darf das Erstlingswerk heute den Zauber der
Konspiration für sich beanspruchen. Vervielfältigt auf einem russischen Wachsmatritzengerät
im Keller eines Pfarrhauses, trägt es das Gütezeichen der "nur für den
innerkirchlichen Gebrauch" entstandenen und darum von staatlichen Spitzeln
mit Interesse gelesenen Drucksachen. Als wenige Monate später der Reiz des Verbotenen
abhanden kam, hätte dem Almanach aus der "Edition Augenweide" leicht
auch das weitere Schicksal jener nicht legalisierten Medien zuteil werden können.
Doch während die meisten anderen Blätter das staatliche Print-Monopol nicht
überlebten, feiert COMMON SENSE in diesen Tagen sein zehnjähriges Bestehen.
Und sein Titel provoziert als kleinster gemeinsamer Nenner bis heute die größte
individuelle Vielfalt. Das liegt sicher zunächst an jenem Konzept, dem die Herausgeber
Tarlatt und Kowalski bis heute treu geblieben sind. Die einzige Auflage, der
sich die bislang rund 250 Autoren beugen mußten, besteht in der Formatierung.
Die genormte Größe A4 ist im "Almanach für Kunst und Literatur" das
Maß aller Dinge. Wie dieser Rahmen aber gefüllt wird, bleibt allein den Beteiligten
vorbehalten. Ihr in 75facher Ausfertigung einzureichender Beitrag wird ohne
Bearbeitung eingebunden. So demokratisch, wie dieses Raumangebot ist auch die
Entlohnung der Mitwirkenden. Ein Exemplar aus der noch immer auf 75 Stück begrenzten
Auflage muß jedem Autor als Gegenleistung für Text oder Bild genügen, Honorare
werden nicht gezahlt. Da damit mehr als die Hälfte aller verfügbaren Bücher
bereits vor Erscheinen vergeben sind, steigt allerdings auch der Wert der verbleibenden
Bände erheblich. Aber der offizielle Preis ist ohnehin nur eine symbolische
Größe. Denn frei verkäuflich ist auch die nunmehr zehnte Jahresgabe des anachronistischen
Bücherclubs nicht. Viel zu viele Bibliotheken und Sammler aus aller Welt reißen
sich um das Schmuckstück, dem einmal mehr der Spagat zwischen regionaler Treue
und internationalem Anspruch geglückt ist. Zwischen rotem, schwarz strukturiertem
Leinen finden sich die Helden der halleschen Dichterszene neben Jungstars wie
Zoe Jenny und Altmeister wie Friederike Mayröcker, namhafte Bildkünstler wie
Helge Leiberg oder Michael Morgner konterkarieren das Wortwerk. Beim Blättern
in den kostbaren Papieren, die schon durch ihre unterschiedliche Stärke und
Struktur eine sinnliche Qualität behaupten, findet der Leser schnell eine neue
und nicht minder zulässige Übersetzung für COMMON SENSE. Tatsächlich kann
das englische Idiom hier auch wörtlich als "Gemeinsinn" verstanden
werden, der ohne Ansehen der Person und des Standes waltet. Die egalitäre Präsentation
von Künstlern, die sehr unterschiedliche Etappen ihrer Karriere erreicht haben,
ist eine Ermutigung für die aufstrebenden und eine Vergewisserung der Etablierten.
So ergänzen sich theoretische Erwägungen mit fröhlichen Einwürfen, fügen sich
originäre Grafiken zu originellen Texten und kreisen räumlich und biografisch
getrennte Autoren um ein gemeinsames Thema ... Der COMMON SENSE stiftet
eine Gemeinschaft, die ihre Vielfalt noch als Reichtum begreift. Und daß sich
in diesem Reigen inzwischen auch Blätter von Hartwig Ebersbach, Friedrich Christian
Delius, Carsten und Olaf Nicolai oder Felix Droese finden, mag nur als Sahnehäubchen
verstanden werden. Der Almanach ist mehr als die Summe solcher großen Namen.
Andreas Hillger, in: Mitteldeutsche Zeitung, Halle, 28. Dezember 1998
Kunst per anno............
Wenige Tage nach Erscheinen des ersten Almanachs hatte sich der Ruch des Unbotmäßigen,
um den die Herausgeber letztlich nie bemüht waren, erübrigt. Die Idee der neuen
Buchreihe war von einer anderen Realität eingeholt und musste sich in den Veränderungen
der Folgezeit behaupten, was ihr insofern gelang, als sie allen Empfehlungen
marktgerechten Managements widerstand. Schon der erste Band enthält, was die
bildende Kunst betrifft, freie grafische Blätter, Collagen, teilweise Wort-
und Bildmaterialien verknüpfend, Illustrationen, die Texte umklammern und visuelle
Poesie, die Darstellung von Text im Bild bzw. umgekehrt. Der Reiz, den der Betrachter/Leser
beim Durchblättern der einzelnen Jahrgänge erfährt, erschließt sich nicht prima
vista, denn er liegt ebenso im Anspruch der einzelnen Beiträge, wie im Rhythmus
ihrer Abfolge, jede Seite ein anderer Autor, jede Seite aber auch ein anderer
Ort, Originales neben Seriellem, Kunst für die Augen, für die Hände, für den
Verstand. Das Jahr verbindet die zur Poesie gewordene Leidenschaft für Literatur
und Kunst. Der farbige Siebdruck von Frieder Heinze, die Collage von Karla Sachse,
der überzeichnete Holzschnitt von Olaf Wegewitz, ein Farbfoto des noch kaum
bekannten Fotografen Olaf Martens, Text-Bildcollagen von Guillermo Deisler oder
Holzschnitte von Ulrich Tarlatt - immer verstehen die Herausgeber ihre eigenen
Arbeiten als Bindeglied im Jahreszyklus zu integrieren - sind wichtige bildkünstlerische
Beiträge im 89er Jahrgang. Der zweite Band bestätigt das Prinzip, Namen wie
Deisler und Wegewitz sind erneut beteiligt, andere wie Gil Schlesinger, Renee
Bouws, Valeri Sherstjanoi und Wieland Krause kommen hinzu. Umtriebige Neugier
und wohlbedachte Einladungen führen jedes Jahr in einen erweiterten Kreislauf
und lassen dennoch jene Balance zwischen Vertrautem und Unerwartetem entstehen,
die in der Summe der einzelnen Beiträge jedes Jahrgangs den Stil der Reihe charakteristisch
macht. Von den jeweiligen "Neuzugängen" fallen 1991 vielleicht Erik
van der Wal, André Vallias und Claus Weidensdorfer besonders auf, und um nur
in Auswahl weitere Namen zu erwähnen, 1992 Denise Weston, Ottfried Zielke und
Ergon, 1993 Olaf Nicolai, Michael Karasik, Frank Wahle und Christian Riebe,
1994 Klaus Elzholz, Roger Hill, Christian Sutter und Werner Wittig, 1995 Frank
Maibier, Dieter Goltzsche und Dietrich Oltmans, 1996 Erich Reusch, Klaus Killisch
und Jens Elgner, 1997 Felix Droese, Hartwig Ebersbach und Christian Sutter,
1998 Walter Stöhrer, Max Uhlig und Osmar Osten. Die Auswahlkriterien gelten
der Person, alle weiteren Fragen, wie technische Ausführung und Thema liegen
in der Hand der einzelnen Autoren. Auf die Frage nach den Ursachen für die außerordentliche
Qualität vieler Blätter dürfen Interesse, Kenntnis und Vertrauen in das Schaffen
der eingeladenen Künstler nicht unterschätzt werden. In der individuellen Ansprache
liegt ein wesentliches Motiv für alle Beteiligten, was nicht zuletzt in persönlichem
Engagement aufgeht, so in originalen Zeichnungen oder Collagen für jeden Einzelband,
beispielsweise von Gullermo Deisler, Christian Riebe, Frank Maibier, Ergon,
Karla Sachse, Ottfried Zielke oder Olaf Wegewitz. Zuweilen gibt der Rahmen das
Thema der Blätter an, die Künstler scheinen dem Jahr ihr Resümee anzubieten,
eine offenkundig reizvolle Aufgabe, bei der bekannte Handschriften oftmals zu
ungewöhnlichen Lösungen verleitet wurden. Andere Blätter fallen wie das verkleinerte
"Nebenprodukt" aus einem Gesamtschaffen heraus, und erst im Rückblick
einiger Jahre wird sich der Zeitbezug deutlicher zu erkennen geben. Was begann,
um die Grenzen der "Weite und Vielfalt" der Kunst in der DDR zu ignorieren
und sich an der jede wirkliche Kunst definierenden Experimentierfreude und Bereitschaft
für Neues zu orientieren, hatte schon im Ansatz die notwendige innere Weite
und Unbeschwertheit besessen, sich über den eng zirkulierten Schablonen des
damaligen Alltags hinauszuträumen. So entstand der Almanach als eine künstlerische
Arbeitsmethode, sich über Wege des Austausches und der gegenseitigen Vergewisserung
über aktuelle Kunst zu verständigen, insbesondere im kritischen Urteil der beteiligten
Kollegen, verwehrte Öffentlichkeit und fehlende Kunstkritik zu überbrücken und
den notwendigen Austausch herbeizuführen, ohne den sich kreative Prozesse auf
die Dauer nicht fortsetzen lassen. Nach wie vor wirkt das Rezept der Suche nach
persönlichen Begegnungen, an denen der Leser/Betrachter teilhat. Auch nach zehn
Jahren erhält sich dieser Glaube an die Erwartungen von Kunst in unserem Leben,
der weiter seine Kreise zieht, denn die Deutsche Bundespost befördert weltweit.
Uwe Jens Gellner, aus Katalog: Jörg Kowalski & Ulrich Tarlatt - Common Sense
1989 -1998
ICH GLAUBE COMMON SENSE IST DER BEDEUTENDSTE KÜNSTLERALMANACH DER GEGENWART
IN DEUTSCHLAND
Gerhard Knab, Sammler, Bibliograf
DER ALMANACH COMMON SENSE WIRD SEINEN PLATZ NEBEN DEN WICHTIGSTEN KÜNSTLERBUCHREIHEN
IM DEUTSCHSPRACHIGEN RAUM IM 20. JAHRHUNDERT FINDEN
Erik Stephan, Galerist